83

Der Reichstag und das Schloss lagen bereits hinter ihnen. Immer noch marschierte der Mann wie ein Roboter auf der Västerlånggatan nach Süden. Die Gasse verlief in engem Bogen durch die menschenleere Altstadt. Sofi verlor ihn aus der Sicht und musste sich bei jeder Quergasse vergewissern, dass er nach dem einstündigen Geradeauslaufen nicht doch plötzlich abgebogen war. Sie hörte seine Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, aber in der mittelalterlichen Enge hallte es so sehr, dass Sofi die Quelle nicht orten konnte.

Inzwischen hatte sie ihn seit einer Minute nicht mehr gesehen und wurde unruhig. Sie huschte auf die rechte Seite der Gasse, um weiter in die Krümmung hineinblicken zu können.

„Ich habe ihn verloren, glaube ich.“

Am anderen Ende der Leitung seufzte Kullgren schwach. Sofi zog den Kopfhörer für einen Moment aus ihrem Ohr und horchte. Die Schritte waren verklungen.

„Sofi“, rief Kullgren. „Wir habend den Transit. Er fährt auf der Skeppsbron.“

Sie blickte in die Straßenflucht. Wenn der Mann nicht losgerannt war, müsste er noch zu sehen sein. Sie lief ein Stück zurück und bog in die Quergasse ein. Nach einigen Metern schielte sie um die Ecke. Die Prästgatan lief parallel zur Västerlånggatan, und es war leicht, dorthin zu wechseln.

Die Prästgatan war leer.

„Siehst du ihn?“

„Nein.“

„Sofi. Der Transit biegt in den Drakens Gränd ab. Du musst raus aus Gamla Stan. Lauf nach Süden.“

„Ja“, rief sie und lief los.

„Der Hubschrauber ist gestartet. Kennst du den Landesteg an der Centralbrücke?“

„Ja. Glaub schon.“

„Versuch, dorthin zu kommen. Das mobile Team sichert von Marieberg aus.“

Sie bog erneut ab, um weiter nach Westen zu gelangen und damit weg vom Drakens Gränd. Auf einmal stand sie vor der Kirche und musste überlegen, in welcher Richtung es weiterging. Sie war seit zwei Jahren nicht mehr in der Altstadt gewesen. Etwas schepperte hinter ihrem Rücken. Sie fuhr herum, entdeckte jedoch nichts, was das Geräusch verursacht hatte. Sie zog den Kopfhörer aus ihrem Ohr, um ihre Sinne besser auf die Umgebung zu richten. Es war ohnehin alles gesagt. Sie erinnerte sich, was ihr Ermin für Situationen wie diese eingeschärft hatte: Die Waffe anlegen und einen sicheren Platz suchen. Bewegung hätte sie unbedingt vermeiden müssen, aber es war wichtiger, aus der Altstadt herauszukommen, solange sie noch konnte. Sie rannte. Rechzeitig entscheiden, ob man im Notfall schießen muss. Den Kopf nie ohne die Schultern drehen, sonst gerät man in Hektik. Vor dem Schuss den Schwerpunkt nach unten verlagern und dann abdrücken.

Sofi Johansson antwortete nicht mehr. Niklas Kullgren hatte alle Monitore im Blick. In den Gassen der Altstadt konnten sie dem Transit mit den Kameras nicht folgen.

„Ich will die Südseite von Gamla Stan auf dem Hauptbildschirm“, befahl Kullgren.

Der Koordinator schaltete auf Kamera 1 um, die sich in der Stomatol-Leuchtreklame verbarg. Er fuhr das riesige Teleobjektiv aus, um vom Nordufer Södermalms über Slussen hinweg weit in jede Gasse der Altstadt hineinzublicken. Aus einer dieser Gassen musste Sofi Johansson jeden Moment kommen, aber eine nach der anderen erwies sich als leer.

„Fahr zurück“, befahl Kullgren. „Ich will alle zugleich im Blick haben.“

Der Koordinator zoomte zurück, bis die gesamte Altstadt von der Skeppsbron rechts bis zur Centralbrücke links ins Bild kam. Die Belegschaft des Säpo-Überwachungsraums starrte auf den Hauptbildschirm. Es war überhaupt nicht zu sagen, aus welcher Gasse Sofi Johansson kommen würde. Wenn sie nur endlich auftauchte, dachte Kullgren.

„Mobiles Team hat Schützen am Mariaberget abgesetzt und fährt weiter“, meldete die Funkerin. „Treffpunkt ist gesichert.“

„Der Hubschrauber landet“, sagte der Koordinator und deutete auf Bildschirm 3.

„Da ist sie!“, rief Kullgren. „Am Kornhamnstorg.“

Sofi Johansson kam in vollem Lauf aus einer Gasse geschossen und rannte weiter, ohne sich umzuschauen.

„Was macht sie denn?“, schrie Kullgren und wiederholte die Frage noch dreimal.

Alle Personen im Raum standen mit einem Ruck auf. Sofi Johansson lief in die falsche Richtung.

„Sie nimmt die falsche Brücke“, sagte die Funkerin und rief hektisch nach dem Hubschrauberpiloten.

Kullgren starrte auf den Hauptbildschirm. Bald war klar, warum Sofi Johansson so schnell lief und dabei vergaß, sich zu orientieren. Drei Gestalten tauchten aus je einer Gasse auf und folgten Johansson über den Vorplatz. Sie war inzwischen an dem verdammten Denkmal von Karl Gustav vorbei.

„Hat der Schütze ein Ziel?“

Die Funkerin agierte heftig. „Negativ! Er muss den Standort wechseln.“

Kullgren schüttelte den Kopf. Das durfte nicht wahr sein. Sie lief direkt auf das Plateau über der Schleuse. Da oben konnte sie jeder Idiot sehen und abknallen.

„Was ist das?“, rief der Koordinator und stand mit ausgestrecktem Arm da. Aus den Gassen kamen weitere Männer. Die Funkerin meldete, dass der Schütze ein Ziel hatte. Aber was sollte das bringen? Noch mehr Männer erschienen. Sie trugen alle weiß. Nach drei Dutzend hörte Kullgren auf zu zählen.

Hinter ihm wurde die Tür aufgestoßen. „Vor zwei Minuten hat es einen Überfall auf die KTH im Valhallavägen gegeben. Interessiert euch das?“

Sie rannte auf das Geländer zu und nahm die Treppe in einem Sprung. Keuchend sah sie sich um. Sie hörte die Rotoren des Hubschraubers, aber wo war die verdammte Plattform? Da war nur ein Steg. Sie blickte nach Osten. Erst da erkannte sie ihren Fehler.

Sie fuhr herum und sah die strömende Flut in der Unterführung verschwinden. Die Schleuse war geöffnet, wie Janne und Karl-Emil es ihr erzählt hatten. War sie unbewusst hierher gerannt, weil sie in den letzten Tagen so viel über die Schleuse gehört hatte? Von oben hörte sie laute Rufe.

Sie wollte nicht warten, bis sie eingeholt wurde. Es waren zu viele. Sie musste nur drei Schritte tun.

Das Wasser war grau und braun. Kälte und Druck umschlossen sie wie ein Stahlgehäuse. Ihr Gedanke stand klar und still in ihrem Kopf. Sie ließ sich sinken, so gut es die Strömung erlaubte. Solange sie Ruhe bewahrte, konnte ihr nichts geschehen. Noch nie war sie im Wasser in Panik geraten. Schwärze umfing sie, dann traf sie die Wucht des Stroms. Sofi gab sich ihr mit ausgestreckten Armen und Beinen hin. Die Masse des Mälarfjords drückte gegen ihren Rücken, dachte sie, als die Wände der Schleuse links und rechts vorbeizogen. Gegen den Druck des Wassers zwang sie ihren Kopf in den Nacken und sah die Deckenleuchten der Überdachung in rascher Folge vorbeiziehen wie den Mittelstreifen einer Autobahn. Zuversicht war ihr einziges Gefühl, und sie dachte nicht daran, wie viel Luft ihr noch blieb. Die Schleuse war ein hundert Meter langer, überdachter Kanal. Hundert Meter. Dann kam der Himmel zurück.

Wenn du Ruhe bewahrst und dich vom Hauptstrom erfassen lässt, trägt er dich durch den Tunnel und gibt dich zweihundert Meter später frei.

Janne hatte nicht gelogen. Sie würde nach links schwimmen und sich zwischen den Booten verbergen, bis Hilfe eintraf.

Plötzlich tauchte ein heller Streifen vor ihr in der Strömung auf. Noch war er weit entfernt. Zuerst hielt sie die Blasen für einen Schuss ins Wasser, aber dazu war der Streifen viel zu groß. Vor ihren Augen breitete sich Rot aus. Dann erkannte sie das tote Gesicht und den Rest des Körpers. Er schien still im Wasser zu stehen und auf sie zu warten. Sie strampelte mit Armen und Beinen, um dem Hindernis auszuweichen, doch die Strömung war so stark, dass sie ihre Bahn nicht beeinflussen konnte. Sie streckte die Arme aus, um den Körper wegzudrücken. Sie strampelte. Der Körper ließ sich nicht wegdrücken. Ihre rechte Hand griff nach etwas Hartem, und mechanisch klammerte sie sich daran fest. Sofort drückte das Wasser ihren Körper nach oben. Sie schluckte vor Schreck. Bald ragte ihr Kopf aus dem Wasser. Das harte Metall, an dem sie sich festhielt, war das geöffnete Schleusentor. Sofi hatte noch nie so lauten Krach gehört. Wände und Decke des Tunnels vervielfachten das Schmettern des nahen Rotors. Der Hubschrauber musste ganz in der Nähe sein.

Der tote Körper trieb immer noch neben ihr, als gäbe es die Strömung gar nicht. Irgendwie hatte sich der Körper mit dem anderen Flügel des Schleusentors verhakt. Dann sah sie den Grund. Aus der Brust des Mannes ragte die Spitze eines Speers.

Die Bewegungen um sie herum brachen den Gedanken ab wie einen trockenen Zweig. Wie bei einem Bahnsteig lief neben dem Strom ein Kai durch den Tunnel. Dort wimmelte es von Menschen. Sofi hatte keine Ahnung, woher sie auf einmal alle gekommen waren. Orientierungslos verfolgte sie das Treiben, bis ihr Blick an einem Mann haften blieb, der durch seinen stämmigen Körper und den Bart aus den anderen herausstach.

Es war Charun.

Woher kam er? Über ein Dutzend Menschen standen sich gegenüber, und sie konnte an der Kleidung und den Gesichtern erkennen, dass sich hier zwei Seiten gegenüberstanden. Sofis Verfolger hatte sich ein Stück weiter hinten im Tunnel hinter Plastiktonnen Deckung gesucht.

Dann schleuderte Charun seinen zweiten Speer. Bis zu seinem Ziel schraubte er sich waagerecht durch die Luft. Schüsse fielen, und neben Charun stürzten zwei Männer zu Boden. Hinter den Tonnen sprangen fünf Männer hervor und rannten auf Charun und seine Leute zu. Doch sie konnten nicht sehen, was sich ihnen von hinten näherte. Die heranstürmende Schar der weißen Gestalten schien unerschöpflich zu sein.

Sie musste sofort weg von hier. Sofi wandte den Blick voraus zum Ausgang der Schleuse. Dort war ein Boot. Es schien in der Strömung zu stehen, doch der Motor musste so dagegen ankämpfen, dass der Bug weit aus dem Wasser ragte. Eine Gestalt stand aufrecht darin und streckte Sofi ihre Hand entgegen. Es war das Mädchen vom Fenster.

03 - Der kopflose Engel
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